SPX/Köln. Wenn man als Testwagen einen Mercedes Sprinter bekommt, stellt man sich auf ein großes Fahrzeug ein. Doch so groß!? In unserem Fall fuhr der Kastenwagen-Klassiker in der fast sechs Meter langen Reisebus-Version Tourer mit Normaldach vor, auf das Mercedes einen Klimakasten sowie untenrum ein zum Modelljahr 2022 neu eingeführtes Allradsystem geschnallt hat. Letzteres hebt die Insassen schnell auf Augenhöhe mit Brummifahrern und außerdem elegant über manche Unebenheit hinweg. Darüber hinaus wartet der antriebsseitig modernisierte und insgesamt erfreulich moderne Sprinter mit einigen aus der Pkw-Welt von Mercedes übernommenen Lösungen auf. Dies macht ihn unter anderem für größere Wohnmobile zu einer interessanten Basis.
Dass sich unser Sprinter mit schnellen 2,50 Meter deutlich über das in seiner Klasse übliche Format erhebt, macht sich unter beim Einstieg bemerkbar. Ein wenig Klettererfahrung kann jedenfalls nicht schaden, will man den Fahrersitz erobern. Auf dem gut anliegenden Gestühl fühlt man sich wohl, auch auf langen Strecken. Über Platzprobleme werden selbst Sitzriesen nicht klagen. Der Arbeitsplatz ist zwar von nutzfahrzeugtypischem Pragmatismus geprägt, doch werten gleichzeitig mehrere Kleinode aus der Pkw-Welt von Mercedes das Cockpit auf. Unter anderem bietet unser Testexemplar ein Lederlenkrad mit vielen Bedientasten. Dahinter befindet sich auf der rechten Seite der Wahlhebel der Neungang-Automatik sowie im Kombiinstrument ein fein auflösendes Farbdisplay. Attraktiv ist der in Hochglanzschwarz gerahmte und von chromrandeten Belüftungsdüsen flankierte 10,25-Zoll-MBUX-Touchscreen. Die Infotainmentlösung gefällt mit schön animierter Grafikoberfläche, außerdem arbeitet das System rechenstark und reaktionsschnell. Besonders gewonnen ist die Navigation mit ihrer detaillierten Kartengrafik und Echtzeit-Verkehrsinformationen. Etwas bescheiden klingt hingegen der Sound des Audiosystems. Immerhin kann man alternativ zum DAB-Radio auch Online-Streamingdienste oder auf dem Handy gespeicherte Musik hören, sofern das Smartphone verbunden ist. Telefonieren per Freisprecheinrichtung ist entsprechend auch möglich. Sprechen kann man außerdem mit dem Bordsystem. Zwar findet man sich in der Menüwelt leicht zurecht, doch per Sprachbefehl kommt man schneller ans Ziel. Ein Tastendruck am Lenkrad oder ein „Hey Mercedes“ reicht, um die Assistentin zu wecken und ihr einen Wunsch – etwa einen neuen Radiosender oder die Navi-Adresse – anzuvertrauen. Statt einer nervigen „Wie-bitte-nicht-verstanden“-Reaktion folgte stets die schlichte und schnelle Umsetzung. Das ist in der Welt der Voice-Command-Systeme längst keine Selbstverständlichkeit.
Außerdem bietet das MBUX-System vielfältige Möglichkeiten zur Fahrzeugeinstellung. Der Fahrer kann das Winterreifen-Limit anpassen, die automatische Verriegelung aktivieren oder diverse Einstellungen an den zahlreichen vorhandenen Assistenzsystemen vornehmen. Unter anderem sind Verkehrszeichenerkennung, Müdigkeitswarner, Fernlicht-, Spurhalte- und aktiver Brems-Assistent an Bord. Die Nutzfahrzeugwelt hat einen Bogen um diese im Pkw-Bereich längst bewährte Helfer gemacht, im Sprinter kann man inzwischen jedoch schnell so sicher wie in einer E-Klasse unterwegs sein.
Apropos: Der aus der E-Klasse bekannte OM-654-Diesel sorgt im Allrad-Sprinter mit 140 kW/190 PS sowie 450 Newtonmeter für einen erfreulich souveränen Vortrieb. Der Selbstzünder mitsamt der sanft schaltenden Neungang-Automatik ist die einzig verfügbare Antriebskombination für die 4×4-Version. Anders als bei bevorzugten Allrad-Lösungen für den Sprinter setzt die Mercedes-eigene Technik auf eine variable Kraftverteilung zwischen den Achsen per elektronisch geregelter Lamellenkupplung. Die Antriebsmomente werden auch situationsabhängig und ohne Zutun des Fahrers variabel zwischen Vorder- und Hinterachse vom Verteilergetriebe gemangt. Die bisher starre Kraftverteilung von 35 zu 65 gehört ebenso wie die Getriebeuntersetzung der Vergangenheit an. Ob auf losem Untergrund oder Asphalt – Traktion ist hier jedenfalls kein Problem mehr.
Dank seiner deutlich höhergelegten Karosserie bietet der 4×4-Sprinter außerdem reichlich Bodenfreiheit, was sich positiv auf Böschungs- und Rampenwinkel auswirkt. Geht es mal etwas steiler, kann sich der Fahrer mithilfe von Kameras mehr Übersicht verschaffen; eine Bergabfahrhilfe ist ebenfalls an Bord. Wenn auch keine wieselflinke Bergziege, muss man Fahrten abseits befestigter Straßen mit dem Allradriesen nicht scheuen. Ob als Mitarbeiter-Shuttle zu entlegenen Baustellen oder als Basis für abenteuerlustige Wohnmobil-Nutzer – viele Anwendungen sind denkbar. Vor allem unerfahrene Wohnmobilisten können sich mit der Allradtechnik auf der sicheren Seite wähnen, sollten sie einmal abseits asphaltierter Flächen campieren wollen. Dank des permanent aktiven Allradsystems haben wir keine durchdrehenden Hinterräder beim Anfahren erlebt, was ein ungewolltes Festfahren unwahrscheinlicher macht.
Der neue 4×4-Sprinter eignet sich nicht nur als Typ fürs Grobe, er ist dennoch ein erfreulich manierliches Auto für den Straßeneinsatz. Es gibt wenig Getriebegeräusche, der Allradantrieb verspannt nicht, der Wendekreis ist für ein Fahrzeug dieser erfreulichen Länge klein. Trotz eines auf hohe Nutzlast ausgelegten Fahrwerks kommen Komfort und Fahrstabilität nicht zu kurz. Flott gefahrene Autobahntouren lassen sich entspannt abspulen. Trotz des hohen Aufbaus ist er auch in Kurven kein wankelmütiger Typ. An das feine und komfortable Pkw-Niveau einer V-Klasse reicht das Fahrverhalten des Sprinters allerdings nicht heran. Zudem ist man mit dem Maxi-Mercedes nicht sehr sparsam unterwegs. Wird der Tempomat auf 120 km/h gesetzt, steigt der Spritverbrauch bereits auf zweistelliges Niveau. Im Schnitt waren es bei uns 10,8 Liter. Die mächtige Stirnfläche und die 4×4-Technik fordern ihren Tribut. Wem der Spritverbrauch egal ist, kann auch 160 km/h schnell fahren. Selbst dann kommen weder Antriebstechnik noch der Fahrer in Stress.
Ob als nackter Kastenwagen, als People Mover – wie in unserem Fall – oder als Basis für ein Wohnmobil: Mit seinen „Pkw“-Qualitäten und dem neuen Allradantrieb übt der Sprinter in seiner Klasse einen besonderen Reiz aus. Der ist allerdings nicht ganz billig, denn kommen ein paar Extras wie LED-Scheinwerfer, Hochdach, beheizbare Frontscheibe und Fernlichtassistenz hinzu, kann der Tourer 4×4 leichthin sechsstelliges Niveau erklimmen. Selbst für die jetzige Sprinter-4×4-Version als Fahrgestell mit Einfachkabine werden bereits rund 52.000 Euro (netto) fällig. Der Preisbaustein des neuen Allradsystems im Sprinter beträgt übrigens rund 10.000 Euro (netto) gegenüber einem baugleichen Sprinter RWD. Wer wie wir eine Zeit lang in die Welt des Sprinters eintauchen will, muss sich daran gewöhnen, in etwas größeren Dimensionen zu denken.
Mercedes-Benz Sprinter 4×4 Tourer Standard/Normaldach – Technische Daten:
Länge: 5,93 Meter, Breite: 2,18 Meter, Höhe: 2,49 Meter, Radstand: 3,67 Meter, Kofferraumvolumen: 2.170 Liter
2,0-Liter-Vierzylinder-Diesel, Neungang-Wandlerautomatik, permanenter Allradantrieb, 140 kW/190 PS, maximales Drehmoment: 450 Nm, Durchschnittsverbrauch WLTP: 12,3 Liter, Testverbrauch: 10,8 Liter, CO2-Ausstoß: 322 g/ km, Abgasnorm: Euro 6
Preis: ab 59.499 Euro (brutto), ab 70.804 Euro (netto)
Kurzcharakteristik:
Warum: weil er auch vor Matsch und nassen Wiesen keinen Halt macht
Warum nicht: weil Preis und Verbrauch deutlich steigen
War sonst: Volkswagen Crafter 4Motion, Iveco Daily 4×4
Quelle: www.welt.de